Die äußerst zahlreichen Reaktionen auf den letzten Brief lassen mich beim Thema Liebe bleiben. Bei jener Liebe, die neben einem offenen Herzen auch Überzeugung und Mut braucht.
Dieser Mut bedeutet nicht, dass Du - wie das Zitat von Omraam Mikhaël Aïvanhov gedeutet werden könnte - Deine Mitmenschen morgens auf dem Weg zur Arbeit mit den Worten „ich liebe euch“ irritieren brauchst. Es geht vielmehr um die innere Einstellung, wie Du den Geschöpfen dieser - Deiner - Welt begegnen möchtest.
Davon, dass auch eine solche innere Einstellung unglaubliche Überzeugung und Mut erfordern kann, handelt eine Geschichte, welche der Schweizer Autor Pierre Pradervand erzählt:
Zu Kriegsbeginn hatte ein jüdischer polnischer Rechtsanwalt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern im Warschauer Ghetto gelebt. Eines Tages hatten die Nazis alle außer ihm - dem Anwalt, der deutsch sprach - vor seinen Augen erschossen.
Er erzählte: „Damals musste ich mich entscheiden, ob ich meinen Hass auf die Soldaten zulassen sollte oder nicht. Ich war Anwalt. Ich hatte in meinem Beruf schon zu oft gesehen, was Hass mit dem Verstand und Körper der Menschen anstellen konnte.
Hass hatte gerade die sechs Menschen umgebracht, die für mich das Wichtigste auf der Welt waren. Da beschloss ich, für den Rest meines Lebens jeden Menschen zu lieben, dem ich begegnen würde“.
Möge der Gedanke, dass wir alle Brüder und Schwestern sind, diese innere Einstellung in Dir fördern.
Meine treue Wegbegleiterin Andrea hat diese Tatsache - als Reaktion auf den letzen Brief - mit folgendem Zitat des litauisch-französischen Philosophen und Autoren Emmanuel Levinas (1905-1995) ausgedrückt:
Der eigentliche Status des Menschen impliziert die Brüderlichkeit.