Aus dem Kreis der Empfänger dieser Briefe habe ich einen Link zur Übersetzung eines Online-Essays von Charles Eisenstein, einem US-amerikanischen Kulturphilosophen und Autoren sowie bedeutendem Theoretiker der Occupy-Bewegung zugeschickt bekommen.
Er stammt aus dem April diesen Jahres und trägt - in Anlehnung an das allgegenwärtige Virus - den Titel "Die Krönung“ (im Original „Coronation“).
Der gesamte Aufsatz ist ziemlich lang, und so möchte ich mit Dir heute einen Auszug aus einigen, nach meinem Dafürhalten besonders essentiellen Textstellen mit dem Titel "Der Krieg gegen den Tod“ teilen:
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Was ist die richtige Art zu leben? Was ist die richtige Art zu sterben? Die Antwort auf solche Fragen, gestellt im eigenen Interesse oder in dem der Gesellschaft, hängt davon ab, wie wir es mit dem Tod halten, und wie hoch wir Spiel, Berührung und Gemeinschaft schätzen, genau wie die bürgerliche und persönliche Freiheit. Es gibt keine einfache Formel um diese Werte abzuwägen.
In meinem bisherigen Leben habe ich beobachtet, dass die Gesellschaft mehr und mehr Wert auf Sicherheit, Gefahrenabwehr und Risikoreduktion legt. Dies hat insbesondere die Kindheit beeinflusst: Als Kinder war es für uns normal, draußen im Umkreis von einer Meile um unser Haus ohne Aufsicht zu spielen, ein Verhalten, das heute einen Besuch der Kinderschutzbeauftragten bei den Eltern zur Folge haben kann. Dies manifestiert sich auch im zunehmenden Einsatz von Latexhandschuhen bei immer mehr Berufen, allgegenwärtigen Händedesinfektionsmitteln, abgeschlossenen, bewachten und videoüberwachten Schulgebäuden, intensivierten Flughafen- und Grenzkontrollen, der erhöhten Aufmerksamkeit auf gesetzliche Haftung und Haftpflichtversicherungen, Metalldetektoren und Durchsuchungen vor dem Betreten vieler Sporteinrichtungen und öffentlicher Gebäude und so weiter. Kurz, es nimmt die Form eines Sicherheitsstaates an.
Die Kultur rundum predigt ununterbrochen ein Leben in Angst und hat Systeme entwickelt, die diese Angst verkörpern. Bei ihnen gilt Sicherheit als höchste Priorität. Auf diese Weise haben wir ein Medizinsystem, in dem die meisten Entscheidungen auf Risikoabwägungen basieren. Der schlimmste anzunehmende Ausgang, der das totale Versagen des Arztes markiert, ist der Tod. Und dennoch wissen wir, dass uns der Tod in jedem Fall erwartet. Ein gerettetes Leben bedeutet nur einen vertagten Tod.
Die ultimative Erfüllung des zivilisatorischen Kontrollprogramms wäre, über den Tod selbst zu triumphieren. Weil sie das nicht schafft, hat sich die moderne Gesellschaft diesen Triumph vorgetäuscht und leugnet den Tod, den sie nicht bezwingen kann: Das reicht vom Verbergen der Leichname vor dem Blick der Öffentlichkeit über den Fetisch der Jugendhaftigkeit bis zur Abschiebung von alten Menschen in Pflegeheime. Ihre Besessenheit mit Geld und Besitz - beides Erweiterungen des Selbst, wie das Wort "mein" indiziert - drückt die Wahnvorstellung aus, dass das unbeständige und vergängliche Selbst durch seine Anhängsel permanent gemacht werden kann. All das ist unausweichlich, wenn wir dieses Narrativ des Selbst betrachten, das die Moderne anbietet: das separate Individuum in einer Welt des Anderen. Umgeben von genetischen, sozialen und ökonomischen Konkurrenten, muss sich das Selbst schützen und andere unterwerfen, wenn es Erfolg haben will. Es muss alles tun, um den Tod aufzuhalten, der (in der Geschichte von der Getrenntheit) die totale Vernichtung ist.
Wenn das Selbst als ein auf das Andere bezogenes, vom Anderen abhängiges, ja sogar durch das Andere erst existierendes betrachtet wird, vermischt es sich mit dem Anderen und das Andere vermischt sich mit dem Selbst. Versteht man das Selbst als einen Bewusstseinsknotenpunkt in einer Beziehungsmatrix, wird man nicht länger nach einem Feind suchen, um jedes Problem zu verstehen, sondern stattdessen nach Ungleichgewichten in den Beziehungen. Der Krieg gegen den Tod macht Platz für das Bestreben gut und voll zu leben, und wir sehen, dass Angst vor dem Tod in Wirklichkeit Angst vor dem Leben ist. Auf wieviel Leben verzichten wir, um sicher zu bleiben?
Die angestrebte perfekte Kontrolle über alles, die Leugnung des Todes und die Geschichte vom getrennten Selbst – vor diesem Hintergrund steht die Annahme, dass staatliche Maßnahmen zuvorderst die Sterberate minimieren sollten, nahezu außer Frage. Ein Ziel, dem andere Werte wie Spiel, Freiheit usw. untergeordnet sind. COVID-19 bietet Anlass, diesen Blickpunkt zu erweitern. Ja, lasst uns das Leben heilig halten, noch heiliger als jemals zuvor. Der Tod lehrt uns das. Lasst uns jede Person, jung oder alt, krank oder gesund als das heilige, wertvolle, geliebte Wesen ansehen, das er oder sie ist. Und lasst uns in unseren Herzen auch für andere heilige Werte Platz machen. Das Leben heilig zu halten bedeutet nicht nur, einfach lang zu leben, sondern gut und richtig und voll zu leben.
Wie jede Angst deutet die Angst rund um das Coronavirus auf das, was dahinter liegen mag. Jeder, der das Sterben eines nahen Menschen erlebt hat, weiß, dass der Tod ein Portal zur Liebe ist. COVID-19 hat dem Tod zur Prominenz im Bewusstsein einer Gesellschaft verholfen, die ihn verleugnet. Jenseits der Angst können wir die Liebe sehen, die der Tod befreit. Lasst sie strömen. Lasst sie den Boden unserer Kultur durchtränken und seine wasserführenden Schichten füllen, so dass sie durch die Risse unserer verkrusteten Institutionen, unsere Systeme und unserer Gewohnheiten nach oben sickert. Manche davon mögen auch sterben.
Die Frage „Wie schützen wir die von COVID Bedrohten?“ lädt uns ein, weiter zu fragen: „Wie kümmern wir uns um die verletzlichen Menschen in unserer Gesellschaft?“ Das nämlich ist der Impuls, der sich in uns rührt, einmal abgesehen von Oberflächlichkeiten wie unseren persönlichen Meinungen über den Schweregrad von COVID, die Herkunft des Coranavirus oder welche politischen Maßnahmen angebracht sind. Der Impuls ist: „Lasst uns jetzt wirklich aufeinander achtgeben. Erinnern wir uns daran, wie wertvoll jeder und jede von uns ist und wie kostbar das Leben. Machen wir eine Bestandsaufnahme unserer Zivilisation, zerlegen wir sie in ihre Einzelteile, und schauen wir, ob wir daraus nicht eine viel schönere bauen können"
Bitte glaub nicht, es sei eine reine Willensfrage, sich zwischen Angst und Liebe zu entscheiden, oder dass die Angst wie ein Virus besiegt werden kann. Das Virus, mit dem wir es hier zu tun haben, ist Angst, sei es die Angst vor COVID-19 oder die Angst vor einer totalitären Reaktion darauf, und dieses Virus hat auch seinen Nährboden. Angst gemeinsam mit Sucht, Depression und einer ganzen Reihe körperlicher Leiden gedeiht auf diesem Boden von Getrenntheit und Trauma: dem vererbten Trauma, dem Kindheitstrauma, der Gewalt, dem Krieg, dem Missbrauch, der Missachtung, der Scham, der Bestrafung, der Armut und dem stillschweigend zur Normalität gehörenden Trauma, das fast jede und jeden betrifft, der in einer monetarisierten Gesellschaft lebt, moderne Beschulung absolviert oder ohne Gemeinschaft oder Ortsverbundenheit lebt. Dieser Boden kann verändert werden durch Traumaheilung auf einer persönlichen Ebene, durch systemischen Wandel hin zu einer Gesellschaft mit mehr Mitgefühl, und durch eine Neuerzählung der Geschichte, die unsere Welt erklärt, und die momentan von der Getrenntheit handelt: Vom getrennten Selbst in einer Welt des Anderen - ich getrennt von dir, die Menschheit getrennt von der Natur. Allein zu sein ist eine Urangst, und die moderne Gesellschaft hat mehr und mehr dazu geführt, dass wir allein sind. Aber die Zeit der Wiedervereinigung ist da. Jede Geste des Mitgefühls, der Güte und Freundlichkeit, des Mutes und der Großherzigkeit heilt uns von der Geschichte der Getrenntheit, denn sie versichert beiden, Handelnden und Zeugen der Handlung, dass wir im selben Boot sitzen.
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Das war mal wieder etwas mehr Text. Aber mich hat er tief berührt. Möge es Dir genauso ergehen!