Brief 256 - Der Zusammenfall der Gegensätze

Nein, ich möchte mich nicht einreihen in den Kreis jener, die angesichts der zunehmend zu beobachtenden Entwicklung von einander diametral gegenüberstehenden Positionen zwischen Recht und Unrecht, richtig und falsch, gut und böse bestimmen. Obschon ich diese Reaktion durchaus verstehen kann, denn auch mein Verstand glaubt, die Wahrheit zu kennen…

 

Vielmehr möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, wie wir mit jenen scheinbar unvereinbaren, gegensätzlichen Ansichten umgehen können?

 

Diese Frage hat vor 600 Jahren auch den Philosophen, Theologen, Kardinal, Mathematiker und Physiker Nikolaus von Kues beschäftigt. Er, der bereits zu Lebzeiten berühmt war und zu den ersten deutschen Humanisten gehörte, hat uns eine mehr denn je wichtige Erkenntnis hinterlassen.

 

Es ist das Konzept des Zusammenfalls der Gegensätze („Coincidentia oppositorum“) zu einer Einheit, in der sich die Widersprüche zwischen scheinbar Unvereinbarem auflösen.

Nikolaus unterschied in diesem Zusammenhang zwischen unserem Verstand, der sich nur auf Relatives beziehen kann, Gegensätze getrennt betrachtet und sie daraus definiert, sowie einer Vernunft, die weit über den Verstand hinausreicht. Sie erlaubt es uns Menschen, sich dem Absoluten - der Einheit - geistig anzunähern.

 

Diese Einheit wiederum betrachtete Nikolaus als das, was als Gott bezeichnet wird.

In der Schöpferkraft sah er die Einheit aller Gegensätze und Widersprüche.

 

Seine Betrachtungsweise lässt uns im Vertrauen darauf leben, dass das, was uns alle trägt, eine Liebe ist, welche die Widersprüche zu erzeugen, aber auch zu überwinden vermag.

 

Es ist Deine Vernunft, welche diese Liebe als Erfahrung in die Welt bringt.

Es ist Deine Liebe, in der sich alle Gegensätze auflösen.

 

Unsere Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als Pole einer Einheit.

Hermann Hesse