Brief 5 - Die andere Seite der Krise

Die vergangenen Tage hast Du davon gelesen, wie Menschen in diesen krisenhaften Zeiten zusammenrücken, dass mehr gegrüßt und gelächelt wird, dass mehr gute Wünsche ausgeteilt werden. Da war vom Glück, eine intakte Familie zu haben und von vermehrten Anrufen und Nachbarschaftshilfe die Rede.

Es ging um grundlose Freude und das positive Veränderungspotential der Krise. Und dazu liefen im Fernsehen Bilder von musizierenden Menschen an den Fenstern und Klatschen auf den Straßen.

 

Das ist wichtig, schön und gut. Aber es ist nur eine Seite der aktuellen Krise.

Die andere Seite ist geprägt von Angst, Sorge und Traurigkeit. Vielleicht bist Du alleinlebend oder fühlst Dich sogar einsam und fragst Dich, wie Dich eine Ausgangssperre treffen würde? Vielleicht ruft bei Dir niemand an, bleiben die Fenster in Deiner Nachbarschaft geschlossen und die Straßen verstummt. Vielleicht bietet Dir niemand Hilfe an und Du wartest vergeblich auf einen Anruf. Vielleicht sorgst Du Dich um Deinen Job und Deine finanzielle Situation, Deine Eltern oder Dich selbst, weil Du plötzlich zu einer „Risikogruppe“ gehörst. Vielleicht wirkt die ständig steigende Zahl an Erkrankten und Verstorbenen auf Dich einfach nur bedrohlich. Vielleicht spürst Du begleitend Frustration, Ärger oder Wut.

 

Beide Seiten gehören zu dieser Zeit. Und deshalb darfst Du beide in Dir zulassen. Ja mehr noch, beide sind Teil von Dir und möchten gesehen werden. Du darfst alles annehmen, was ist! Das ist nicht nur in Krisenzeiten angebracht, es ist wohl eine der wichtigsten Lebensweisheiten: Annehmen was ist! Hier und Jetzt. Das, was Dir gerade gut tut und das, was Dich gerade schmerzt.

 

Wenn Du magst, so gib dir jetzt selbst eine Umarmung:

Setze Dich aufrecht, aber möglichst entspannt auf einen Stuhl. Der Rücken sollte gerade sein. Gib dir eine große Umarmung. Verschränke Deine Arme vor Deinem Brustkorb, platziere dabei die Hände unterhalb der Achselhöhlen. Der Daumen liegt vorne am Brustkorb, die Finger seitlich am Körper. Lass Deine Schultern fallen. Löse jegliche Spannung im Körper, so gut Du es gerade kannst. Wenn Dir das im Moment nicht gelingt, setze Dich einfach hin, wie es Dir am bequemsten ist. Ganz ohne Anstrengung. Sei einfach da. Schließe die Augen und gehe mit Deiner Aufmerksamkeit nach innen. Atme ohne Anstrengung aus. Beobachte, wie die Luft aus Deinem Körper ausströmt. Dabei sinkt der Oberkörper ein wenig nach unten. Versuche nicht, den Atem zu lenken. Atme wieder ein und versuche wahrzunehmen, wie der Lebensatem in Dich einströmt, wieder ohne Anstrengung. Bleib in der Rolle eines Beobachters.

Wenn Gedanken oder Sorgen aufkommen, dann nimm sie als Teil von Dir wahr und entlasse sie aus Deinem Bewusstsein. Kehre mit Deiner Aufmerksamkeit wieder zu Deinem Atem zurück. Dort, wo Deine Aufmerksamkeit ist, ist auch Deine Kraft.

Richtest Du Deine Aufmerksamkeit auf den Atem, ist Deine Kraft im Hier und Jetzt, in diesem Moment. Lass geschehen, was ist.

 

Der Atem harmonisiert, heilt und löst Spannungen. Und dazu umarmst Du Dich selbst, das Leben, DEIN Leben. Vielleicht lächelst Du, vielleicht weinst Du. Bleib einfach bei Dir und sei gut zu Dir.

 

Das „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ im Brief von gestern beinhaltet auch die Aufforderung, Dich selbst zu lieben…

 

Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.

Václav Havel