Heute möchte ich mit Dir eine Erfahrung teilen, die mich in den Tagen seit meinem letzten Brief ganz besonders berührt hat. Ich habe sie als ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Seelsorge-Hotline der Nordkirche gemacht. Nie zuvor war ich dem Elend, dass die aktuelle Situation für Menschen bedeuten kann, näher. Keine Emotion, die nicht dabei gewesen wäre. Tränen und tiefe Gefühle von Verlassenheit, Ohnmacht, Angst und Wut flossen durch die Drähte. Erinnerungen an die Kriegsjahre kamen hoch. Aber - meist im zweiten Teil der Gespräche - auch mehr oder weniger deutliche Spuren von Hoffnung und Vertrauen.
Im Nachhinein fiel mir eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit in den Gesprächen auf: Immer ging es um ein Thema, dass bereits lange Zeit, bevor irgendjemand beim Begriff Corona an Viren dachte, im Leben der Anrufer existent war. Ob Beziehungskonflikt, Kränkung oder depressives Gefühl - immer schwelte es seit Jahren und machte das Leben schwer. Nun wurde es durch den Wegfall der sozialen Kontakte und Kompensationsmöglichkeiten schmerzhaft deutlich. Ganz salopp könnte man sagen, es fällt einem etwas vor die Füße, was lange verdrängt wurde.
Dieses Verdrängen ist aber nichts, worauf es mit dem Finger zu zeigen oder was es zu verurteilen gilt. Oft ist es die einzige Möglichkeit, die einem Menschen zur Verfügung steht. Dann kann das Leben weitergehen. Und leider finden Menschen in unserem Gesundheitssystem auch oft nicht die Unterstützung, die sie bräuchten, weil diese Zeit, Geduld, Einfühlungsvermögen und ein ganzheitliches Verständnis der Psyche des Menschen und der psychosomatischen Zusammenhänge erfordert.
Wer sich mit der Entwicklung des Menschen und der Frage, wie sich bestimmte Erfahrungen in spezifischen Lebensabschnitten auswirken, einmal beschäftigt hat, wird sich über meine oben geschilderte Beobachtung nicht wundern. Gerade diejenigen negativen und defizitären Erfahrungen, die wir in frühester Kindheit gemacht haben, prägen uns am meisten und machen uns in Zeiten wie diesen ganz besonders zu schaffen. Denn es sind Erfahrungen, die verhindert haben, dass der Mensch ein gesundes Urvertrauen entwickeln konnte.
Wikipedia definiert das Urvertrauen als Grundlage für
- Vertrauen auf sich selbst, Selbstwertgefühl und Liebesfähigkeit („Ich bin es wert, geliebt zu werden.“, „Ich fühle mich geborgen.“)
- Vertrauen in andere, in Partnerschaft und Gemeinschaft („Ich vertraue Dir.“, „Wir lieben uns.“, „Ich weiß mich verstanden und angenommen.“) sowie
- Vertrauen in das Ganze, in die Welt („Es lohnt sich zu leben.“)
Wer dieses Urvertrauen hat, der verfügt in der aktuellen Situation über das, was wir gemeinhin als Resilienz bezeichnen: Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Mit Resilienz verwandt sind Entstehung von Gesundheit (Salutogenese), Widerstandsfähigkeit (Hardiness), Bewältigungsstrategie (Coping) und Selbsterhaltung (Autopoiesis) (Quelle: Wikipedia)
Soviel zur Theorie. In der Praxis kann Dir das Wissen um diese Zusammenhänge hilfreich sein, um ein Verständnis für Dein eigenes Verhalten in Ausnahmesituationen zu erreichen. Und wenn Du Dein Verhalten einordnen kannst, kannst Du es für Dich auch als Teil Deiner Biografie, Deines Lebens annehmen. Oft nicht unmittelbar, sondern erst nach einer - je nach Thematik - mehr oder weniger langen Zeit der Verarbeitung, zu der auch das bewusste Erleben der begleitenden Emotionen gehören darf.
Es sind also ganz oft die Krisensituationen, die uns dazu bringen, die Themen, die schon immer verhindert haben, dass wir mit unserem ganzen Potential in die Welt gehen, anzuschauen und zu heilen. Das versteckt sich hinter der Botschaft „Krise als Chance“!
Mögest Du die Kraft und Unterstützung finden, das zu heilen, was Dich daran hindert, in der aktuellen Situation auf ein gesundes Urvertrauen zurückzugreifen. Gerne stehe ich Dir dabei zur Seite. Damit Du mit Deinem wahren Potential in die Welt trittst, wenn sie wieder ins Laufen kommt. Sie wird Dich brauchen!
Alles wird gut, posaunt das positive Denken. Alles ist gut, flüstert das Urvertrauen.
Wer Urvertrauen hat, braucht keine Hoffnung.
Wer Hoffnung braucht, hat kein Urvertrauen.
Beide Zitate von Andreas Tenzer