Brief 97 - Sehen und gesehen werden

Der Titel des heutigen Briefes mag erstmal irritieren. Kein Wunder, steht er doch für die Welt des Egos, des bedürftigen Ichs, dass seine Bestätigung in Äußerlichkeiten und im Ansehen sucht.

Aber das ist nur die eine Seite von Sehen und gesehen werden. Die andere ist die des wahren Sehens - die Innenschau. Das Erkennen Deines inneren Kerns, dessen, was Dich wirklich ausmacht.

 

Dass das Sehen sich so sehr auf die Äußerlichkeiten bezieht, dürfte wohl daran liegen, dass die meisten Menschen nur diese Komponente des Sehens kennen und sich ihres wahren Wesens nicht bewusst sind. Sie haben sich in der Welt verloren, was auch dazu führt, dass sie auf das Wohlwollen und die Anerkennung der Leute angewiesen sind. 

Wir alle freuen uns über Wohlwollen, wir alle möchten gesehen und anerkannt werden - insbesondere von den Menschen, die uns nahe stehen: Familie, Freunde, Partner, Arbeitskollegen. Aber wenn wir darauf angewiesen sind, ist das ein Zeichen dafür, dass wir die Verbindung zu unserem wahren Selbst verloren haben.

 

Thomas von Kempen, Augustiner-Chorherr, Mystiker und geistlicher Schriftsteller des 15. Jahrhunderts stellte fest:

 

Wenn du darauf achtest,

wie du bei dir im Innern bist,

so wirst du nicht mehr sorgen,

was die Leute über dich reden.

 

Dein Friede sei nicht

vom Munde der Menschen abhängig.

Sei es nun, dass sie gut,

dass sie schlecht von dir reden,

du bist darum kein anderer Mensch.

 

Die Formulierung „wie du bei dir im Innern bist“ mag Dir etwas unspezifisch erscheinen. Vielleicht erwartest Du gerade an dieser Stelle eine deutliche Aussage: Worauf soll ich denn achten? Aber bedenke: Es geht an dieser Stelle nicht darum, etwas zu sehen, sondern auf etwas zu achten. Es geht um Achtsamkeit, um eine Erfahrung. Um sie zu machen, hilft zum Beispiel der im Brief 88 als „Auszeit“ beschriebene bewusste Atemzug.

Es ist die Erfahrung des inneren Friedens, der Dich die Urteile und Bewertungen der Welt als subjektive Erscheinungen betrachten lässt, die Du annehmen oder vorbeiziehen lassen kannst.

Das ist Unabhängigkeit von Sehen und gesehen werden. Das ist Achten und erfahren haben.